… Lächelnd bat sie Elena auf einer Steinbank Platz zu nehmen und setzte sich neben sie. Elena warf unter den demütig gesenkten Lidern einen mißtrauischenBlick auf ihre Feindin, deren freundlichem Verhalten sie keinen Schritt weit traute. „Mein liebes Kind,“ begann sie in gekünstelt wohlwollendem Ton, „Du hast deine Familie schon lange nicht mehr gesehen. Möchtest du sie nicht gerne besuchen?“ Vor Überraschung fehlten Elena die Worte. Als sie sich endlich wieder gefaßt hatte antwortete sie schnell: „Es wäre mir eine große Freude, wenn es mir erlaubt würde, meine Familie aufzusuchen.“ Sie überlegte bereits, wie sie diesen Besuch für eine Nachricht an Angelo oder für eine Flucht nutzen könnte, da fuhr die strenge Frau mit katzenhaftem Lächeln fort: „Du wirst natürlich von mir begleitet.“ Damit waren Elenas Pläne zunichte gemacht bevor sie überhaupt entworfen waren und die Miene, die man nur als bösartig bezeichnen konnte verriet, daß die Priesterin das auch genau wußte. Die Frau nickte Elena zu und diese wußte, daß das Gespräch damit beendet war. Sie erhob sich und machte widerwillig eine kleine Verbeugung. Als sie das Atrium schon fast verlassen hatte, hörte sie nochmals die Stimme der Verhaßten: „Ich werde morgen früh mit dir zum Hause deines Vaters gehen, denn auch ich habe etwas mit ihm zu besprechen.“ Bedrückt kehrte Elena in den großen Säulensaal zurück, wo sie betend vor dem Standbild des Stiergottes niedersank. Sie hatte Angst, daß die bösartige hohe Frau ihrem Vater von ihrem Fehlverhalten erzählen würde. Und ihr Vater war ein strenger Mann. So flehte Elena alle Götter um Hilfe an. Fast alle, denn den Minotaurus verachtete sie inzwischen fast genauso sehr wie seine höchste Dienerin. In dieser Nacht fand sie keine Ruhe. Angst und Sorge plagten sie und wenn sie kurz in einen unruhigen Schlummer fiel, schreckte sie bald mit Angstschweiß auf der Stirne aus schrecklichen Alpträumen wieder auf. Endlich schickte der Morgen sein rötliches Licht durch das Fenster herein. Noch bevor die Priesterin, mit der sie den Raum teilte, erwachte, war Elena fertig gekämmt und angezogen. Sie wollte der Hohe-Priesterin auf keinen Fall einen Grund zu irgendeiner Kritik liefern. Diese erschien auch schon kurze Zeit später und bedeutete Elena wortlos ihr zu folgen. Die hohe Frau ritt auf einem geschmückten Esel, während das Mädchen zu Fuß nebenherging. Als sie das Gelände des Tempels hinter sich ließen und durch die blühende Landschaft wanderten, atmete Elena auf und für einen Moment kam ihr all das Böse, das sie erleben mußte wie ein schlechter Traum vor. …

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