… Ihr plötzlicher, ungerechtfertigter Zorn von vorhin war schon lange verflogen. Unter dem Schutz von Retenus Umhang hob Lena ihr Gesicht zu ihm empor und sah ihn zum ersten mal voller Vertrauen an. Retenu schob sie ein Stück von sich und schaute mit ungläubigem Blick tief in ihre samtbraunen Augen, dann riß er sie heftig an sich und sie versanken in einem Kuß, der so ungestüm war, wie der Sandsturm, der um sie herum tobte. Lena wünschte sich, daß dieser Augenblick niemals enden würde, denn in diesen Sekunden der Leidenschaft, waren plötzlich all ihre Zweifel verschwunden und kein Gedanke an die Vergangenheit hatte in ihrem aufgewühlten Herzen Platz. So plötzlich, wie der Sandsturm begonnen hatte, ebbte er auch wieder ab. Mit der Stille, die einkehrte, blickte Retenu Lena wie ein aus tiefem Schlaf Erwachender an und ließ sie aus seinen Armen gleiten. Als sie sich wieder an ihn schmiegen wollte, wich er zurück und sie erschrak vor dem zornigen Blick in seinen Augen. Was hatte sie falsch gemacht, was war passiert? „Retenu!“, sie streckte ihm bittend ihre Hand entgegen, doch er schüttelte seinen Umhang aus, ging zu den Pferden, und bestieg ohne sich nach ihr umzusehen seinen Hengst. Ernüchtert und in die Realität zurückgekehrt beeilte sich Lena ihre Stute zu erreichen und ihm zu folgen. Sie konnte es kaum fassen, daß sie sich in einem Moment der Angst einfach ihrem „Besitzer“ an den Hals geworfen hatte; oder waren es ganz andere Gefühle als Furcht gewesen, die sie zu diesem Fauxpas verleitet hatten?
Die Gefangennahme
Retenu war schon fast außer Sichtweite und entschlossen schüttelte sie diese unmöglichen Gedanken ab. In ihrer momentanen seelischen Verfassung hätte Lena beinahe übersehen, daß sich so eine gute Gelegenheit zur Flucht vielleicht nie wieder ergeben könnte. Schnell bestieg sie die nervös tänzelnde Stute und versuchte sich vom Sattel aus zu orientieren. Retenu war nur noch als schwarzer Punkt in weiter Entfernung zu sehen. Lena ging davon aus, daß er zurück zur Villa ritt und lenkte ihre Stute in die Richtung, in der sie die Ausläufer der Stadt vermutete, um in einem Bogen die Innenstadt zu erreichen. Vielleicht würde sie von Verfolgern solange verschont bleiben, bis sie die deutsche oder amerikanische Botschaft erreicht hatte. Sie ließ die Stute in eine schnelle Gangart verfallen und duckte sich auf deren Rücken, um den immer noch vereinzelt fliegenden Sandkörnern zu entgehen. Das Pferd flog nur so dahin und Lena meinte schon in der Ferne die ersten vereinzelten Gebäude von Assuan zu erkennen, als plötzlich und unvermittelt die Stute strauchelte und Lena brutal aus dem Sattel geschleudert wurde. …
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