… Lena wußte, daß die Zeit für eine Flucht langsam knapp wurde. Inzwischen hatte sie ziemlich viele Freiheiten. Sie durfte sich ohne Begleitung im Haus bewegen und den großen Innenhof besuchen wann immer sie wollte und gerade nicht gebraucht wurde. Sie hatte zwei kleine Nebenpforten entdeckt, war aber noch nie alleine in deren Nähe gewesen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als immer wieder wie zufällig an diesen Türen vorbeizuschlendern und zu hoffen, daß eine von ihnen einmal unverschlossen wäre und sie unentdeckt entwischen könnte. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, wie es danach weitergehen würde; es würde sich schon irgendwie ergeben. Sie sprach inzwischen gebrochen Arabisch und würde sich halbwegs durchfragen können bis zu irgendeiner für sie brauchbaren ausländischen Botschaft. Dort würde man ihr dann hoffentlich weiterhelfen. Lena hatte natürlich auch schon darüber nachgedacht, ob Kai oder ihre Großmutter es irgendwie bewerkstelligen würden, ihr von außerhalb Hilfe zu schicken; diese Hoffnung hatte sie aber bald aufgegeben. Zu verschlungen waren die Pfade der Mädchenhändler um sie bis hierher verfolgen zu können. Auch versuchte sie die Erinnerungen und Gefühle aus der Vergangenheit soweit wie möglich zurückzudrängen, da sie jedesmal in tiefe Melancholie verfiel, wenn sie daran dachte, daß sie vielleicht ihre Heimat, ihre Oma und Kai niemals wiedersehen würde. Merit riet Lena sich noch etwas auszuruhen und die Salbe wirken zu lassen, danach verließ sie leise das Zimmer. Lena schloß die Augen und jetzt liefen ihr doch die lang unterdrückten Tränen über die Wangen. Ihre Fluchtgedanken hatten unweigerlich auch die Gedanken an die Heimat geweckt. An das kleine Haus ihrer Großmutter, an ihre letzte Nacht mit Kai, an seinen verwirrenden, langersehnten Antrag ..... Lena vergrub ihr Gesicht in den weichen Seidenkissen ihres Diwans und weinte bitterlich, während Merits Salbe einen hässlichen Fleck auf der teuren Wäsche hinterließ. Vorsichtig legte sich eine sanfte Hand auf ihre Schulter. In der Annahme es sei Merit, die doch noch einmal zurückgekommen sei, drehte Lena leicht ihren Kopf und schmiegte trostsuchend ihre heile Wange an die warmen Finger. Dann fuhr sie erschrocken zurück und setzte sich auf, denn diese feingliedrige und doch kräftige Hand war keine Frauenhand. Es war Retenu, ihr „Herr“. In Lena sträubte sich alles, dieses Wort auch nur zu denken. Aber er saß nun einmal da auf ihrem Diwan und sie mußte wohl oder übel gute Miene zum bösen Spiel machen, solange sie keinen Ausweg aus dieser unmöglichen Situation gefunden hatte. …
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