… Überall standen Töpfe mit frischen Kräutern und blaue Hühner aus Ton, die Anita in ihrer Freizeit selber herstellte und bemalte. Zwei riesige Fenster über der Arbeitsplatte aus beigegesprenkeltem Granit waren mit sonnengelben, gerafften Gardinen geschmückt. Ein Hauch von Lavendel lag in der Luft. Ein sauberes und friedliches Ensemble, in dem sich Sam merkwürdig deplatziert vorkam. Sam lehnte sich mit ihrer Kaffeetasse zurück und betrachtete ihre schmutzige und zerrissene Gefängniskleidung. Auf ihrer linken Hand sah sie noch schwache Spuren von Lapuentes getrocknetem Blut. Keine Frage, sie musste in dieser Küche wie ein Fremdkörper wirken. Sam verspürte einen zwanghaften Wunsch, sich die Kleidung vom Körper zu reißen und ihre Haut mit Seife zu schrubben, um auch die letzten Spuren der vergangenen Nacht zu beseitigen. Sie schätzte, dass sich die Spuren in ihrem Verstand und auf ihrer Seele nicht so leicht abwaschen ließen. Sam stand auf und stellte die leere Tasse in Anitas Spülbecken. Lange sah sie durch die großen Fenster und betrachtete den von den ersten Sonnenstrahlen in orangerotes Licht getauchten Himmel. Stahlgraue Schlieren und wenige hellblaue Flecken bildeten ein harmonisches Muster. Die hellblauen Flecken erinnerten entfernt an Brutus irritierende Augenfarbe. Sams Magen verkrampfte. Ob er tot war? Sie hatte ihm aus nächster Nähe in die Brust geschossen. Sam schätzte seine Überlebenschancen auf weniger als 10 %. Selbst ein Koloss wie Brutus musste diesen Verletzungen erliegen. Sie zuckte zusammen, als Anita ihre Hand mit sanftem Druck von der Arbeitsplatte löste. „Kommen Sie, meine Liebe. Ich habe ihnen ein warmes Bad eingelassen. Einige Kleider aus meinen jüngeren Tagen liegen für Sie auf der Wäschekommode bereit. Sie sind zwar nicht topmodern, dafür aber sauber und ...“ Anita musterte Sams graue und zerrissene Gefängniskluft. „... weniger auffällig.“ Sam stand unschlüssig vor der mit warmem Wasser und duftendem Schaum gefüllten Wanne. Wie lange war ihr letztes Bad her? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Hastig entledigte sich Sam ihrer schmutzigen Sachen und ließ sich vorsichtig in das Schaumbad gleiten. Wohlige Wärme umspülte ihren Körper. Sam lehnte sich zurück, schloss die Augen und versuchte, ihre Muskeln zu entspannen. Doch sobald sie die Lider schloss, sah sie Bilder wie Blitzlichtgewitter aus den Tiefen ihres Verstandes hochschnellen. Miguels Bruder auf dem Stuhl, in einer Lache seines eigenen Blutes, Lapuentes Körper zwischen den Gitterstäben, die nackte Li, schaukelnd auf dem Fußboden, Brutus schreckgeweitetes Gesicht, als sie ihm in die Brust schoss. …

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