… noch im Schulchor mitsingen. Ein adliges Fräulein, elegant in Schwarz gekleidet und mit einer langen Perlenkette, unterrichtet hier die Besten aus allen Klassen. Ihre Anforderungen sind streng. Ohne Text und Noten, ohne Klavierbegleitung, nur nach ihren Handzeichen „do, re, mi, fa, so, la, ti, do“. Für jede Note hat sie eine andere Handbewegung, und bei dem kleinsten Patzer fangen wir wieder noch einmal von vorne an. Am Ende der Stunde stimmt die Melodie und wir sind stolz auf uns. Das Fräulein hat eine Unterrichtsmethode, die uns sehr viel Spaß macht. Aus einfachen Handbewegungen wird eine Melodie. Das adlige Fräulein kann herrlich lachen und noch schöner singen. Wenn alles gut klappt, spielt sie auf dem Klavier verrückte Sachen wie „I scream, you scream, we all scream for icecream.“ Übermütig klimpert sie die Melodie und wird dabei jedes Mal von unseren Stimmen übertönt. Sie muss in jungen Jahren wunderschön gewesen sein, aber der Zahn der Zeit hat bei ihr als Mittdreißigerin schon nicht zu übersehende Spuren hinterlassen. Mit der gleichen Freude sind wir ernst und konzentriert, um jetzt für den Weihnachtsgottesdienst in der Kirche zu üben. Unser Chor sitzt auf der Empore gleich neben der Orgel. Ich habe es geschafft, zusammen mit zwei anderen Mädchen das Solo singen zu dürfen. Es ist eine wunderschöne Melodie. Unser adliges Fräulein dirigiert und zählt für uns den Takt. Weihnachten war die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt. Der Chor atmete sich ein und war kurze Zeit danach einsatzbereit. Mit dem letzten Ton unseres Solos setzte er ein. Die Melodie hatte mich so gefangen genommen, dass ich nicht aufhören konnte zu singen und so hing ich sechs Töne hinterher. Irritiert verpatzte der Chor seinen Einsatz wobei ein Schmunzeln des Fräuleins nicht zu übersehen war. Unsere Direktorin war wirklich sauer, ja natürlich, ich war wieder einmal dieses unmögliche Kind, das immer negativ auffällt.
Jeden Tag eine Stunde. Die Stunde meines Mittagsschlafes, so hatte ich es Elsa versprochen. Zur Hilfe kamen mir das große, rote Fotoalbum und meine Erinnerungen. So viele Jahre sind vergangen und es kommt mir vor, als ob es erst gestern war. Erst jetzt beginnen Elsas Tagesbücher, vom Regen aufgeweicht und die Tintenschrift dadurch seitenweise verwischt.
Die Zeit vor ihren Aufzeichnungen ist in meinen Gedanken, ich war ihr immer nahe. So nah, dass ich heute noch das Gefühl habe, sie manchmal neben mir zu …
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