Elsa
Ein Sonntagskind, notgetauft aber dennoch sehr wahrscheinlich ungewollt, ungeliebt, mager, eckig und unfertig, das ist Elsa.
Heute ist endlich der zweite Advent. Mit zwiespältiger Erwartung habe ich diesen Tag herbeigesehnt, denn an meinem achten Geburtstag kam Papa mit der Nachricht, dass ich auf der Weihnachtsfeier des Schützenvereins, die immer am zweiten Advent stattfindet, das obligatorische Gedicht vortragen darf. Papa ist in diesem Jahr Schützenkönig und diese Aufgabe wird traditionell von einem Kind des Schützenkönigs übernommen. Ich bin total glücklich und wünsche mir nichts sehnlicher, als dass meine Eltern stolz auf mich sind. Deshalb nutzte ich jetzt die Tage und Wochen zum Proben, probiere jeden Satz mit anderer Betonung und übe, wie ich am vorteilhaftesten wirken kann. Vielleicht das rechte Bein angewinkelt oder lieber das linke schräg nach vorne gestellt, beide Beine geschlossen und die Arme eng am Körper, oder besser sitzend, die Beine gerade oder übereinander geschlagen, wie es die erwachsenen Frauen machen? Den großen Wandspiegel im Flur finde ich hierfür geradezu ideal und die sanfte Beleuchtung zu beiden Seiten schmeichelt meiner Erscheinung. Meine kleine Schwester ist mein Publikum und die klatscht nach jeder Darbietung eifrig in ihre kleinen Händchen. Meine Eltern und meinen jüngeren Bruder interessiert das wenig.
Wie bei Ausflügen oder wenn Besuch kommt und ganz besonders sonntags, lässt man es in unserer Familie gemütlich angehen, und deshalb ist das Frühstück sonntags immer auch gleichzeitig das Mittagessen. Dann müssen wir uns morgens lange alleine beschäftigen, und das ist bei aufdiktierter Ruhe meistens mehr frust- als lustvoll, denn vor neun Uhr wollen Mama und Papa nicht geweckt werden. Meistens zieht Mama schon beim Aufwachen ihr spitzes Mündchen und hat vorsorglich gegen ihre Migräne schon am Abend zuvor ihre Tablette und etwas Wasser zum Aufweichen auf den Suppenlöffel in die Küchenspüle gelegt. Ein Alarmzeichen für alle, auch für Papa. Wir drei haben Schuld an ihrem Kopfschmerz, denn wie sie es uns schon unendliche Male glaubhaft zu verstehen gab, hätte ihr ein Kind völlig gereicht. Drei sind für sie zwei zu viel. Immer droht sie uns dann, in die weite Welt zu gehen. Dabei klemmt sie sich bei ihren Schimpftiraden jedes Mal demonstrativ den Regenschirm unter den Arm, aber weiter als bis …
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