… Die Alte hielt die Schale noch höher. Alle Augen waren auf Sam gerichtet. Lola sah sie ernst an und nickte ihr zu. Der Griff links und rechts um ihre Finger wurde fester. Sam hatte keine Wahl. Sie senkte ihr Gesicht in die Schale und schloss die Augen. Einen Moment hielt sie den Atem an. Was für ein Zeug war das bloß? Sie spürte die Rauchschwaden wie Spinnweben über ihr Gesicht gleiten. Die werden hier schon nicht kollektiven Selbstmord begehen, dachte sie grimmig und atmete tief ein. Sam hatte sich auf ein scharfes Brennen und Beißen in ihren Atemwegen vorbereitet und war überrascht, als kühle, süße Luft in ihre Lungen strömte. Eine phantastische Euphorie überkam sie, gierig atmete sie ein weiteres Mal ein. Jede Zelle ihres Körpers gierte nach diesem Zeug. Sam atmete wieder ein, noch tiefer, noch gieriger. Als Sam den sechsten tiefen Atemzug tat, zog die Frau ihr die Schale weg. Sam bedauerte es zutiefst. Starke Hände richteten sie auf. Sam sah sich um, sie nahm alles viel intensiver wahr, Farben, Gerüche, selbst der sanfte Hauch des Windes auf ihrer Haut war eine intensive Sinneswahrnehmung. Es kam ihr vor, als ob tausend sinnliche Finger sie streicheln würden. Sam sah zu Lola. Ihr roter Haarschopf hatte sich in eine feurige Kaskade verwandelt, die eine glühende Aura um ihren Kopf zauberte. Die graue Frau setzte ihren Rundgang fort. Nachdem auch der Letzte seinen Kopf über den geheimnisvollen Inhalt der Schale gebeugt hatte, begann die Menge wieder zu wogen und leise Beschwörungen zu murmeln. Immer schneller wurden das Wogen und der Sprechgesang. Sam ließ sich treiben. Sie sah zu, wie die Alte selber das Gesicht über die Schale hielt und sie anschließend zu Lolas Füßen abstellte. Sie trat zurück in den Kreis. Lola hob den Dolch über den Kopf. Das Murmeln und Wogen erstarben. „Wir bringen dir eine neue Gefährtin. Versenke deinen Geist in das Opfer, das wir für dich öffnen und weihe deine neue Dienerin. Wir weihen dir ihr Leben ...“ Mit diesen Worten schlitzte Lola dem Widder die Kehle auf. Das Tier sank mit den Vorderbeinen ein. Lola griff die zu Schnecken gebogenen Hörner und zog den Kopf des Tieres zurück. Plätschernd ergoss sich sein Blut in die Schale. Die Todesschreie des Widders wurden durch das Seufzen der Menge übertönt. Sam spürte, wie sich die verschränkten Finger rechts und links von ihren Händen lösten. Sie starrte gebannt auf Lola und das sterbende Tier. Der Kreis löste sich auf. …

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