Meine besten Freunde Renate und Carlo, sie sind Zwillinge, und ich gehen auf unterschiedliche Schulen. Schon in der Grundschule waren wir getrennt. Ich ging auf die evangelische Schule, Renate und Carlo auf die katholische. Noch nicht einmal der Weg dorthin war derselbe. Renate geht nun in die Realschule, Carlo auf ein Jungengymnasium in unserem Vorort und ich aufs Mädchengymnasium in die Stadt. Trotzdem treffen wir uns oft am Nachmittag. Eigentlich sind wir wie Geschwister. Mir gefällt die große Familie meiner Freunde, mit Omas, Onkeln und Tanten, die gleich in der Nähe wohnen. Sie sind eingesessen, keine Zugezogenen wie wir, kennen ihre Nachbarn genau bis ins siebte Glied und wissen viele Geschichten zu erzählen von dem, was sich so zuträgt in einer kleinen Stadt. Wir leben allein: Vater, Mutter, Schwester, ich.
"Hasse jehört, der Jupp het ene Unfall jehabt."
Meine Mutter kennt keine solchen Geschichten. Meine Verwandtschaft ist über ganz Deutschland verteilt. Vater ist Einzelkind, seine Eltern sind schon gestorben und Mutters Anverwandte leben in Norddeutschland und der Kontakt ist spärlich. Eine Tante, der ich nach meiner Konfirmation einen Dankesbrief für ihr Geschenk, ein Büchlein mit schwarz-weißen Fotos von Schloss Sansoussi in einer dunkelbraunen, eigentlich recht hässlichen, ledernen Buchhülle schreiben sollte, habe ich nie kennen gelernt. Sie lebt in Thüringen, und ist wohl in der Hoffnung als Patin ausgesucht worden, dass die deutsch-deutschen Grenzen einmal fallen werden. Das Schloss aus dem Büchlein liegt in der Ostzone und ich werde es wohl nie zu sehen bekommen.
Um wenigstens einen kleinen Vorgeschmack auf unsere neue Heimat zu haben und die Frage nach meinem und meiner Schwester schulischem Verbleib zu prüfen, ist meine Mutter nun ein paar Tage alleine zu meinem Vater nach Bayern gereist. Der arbeitet seit dem Frühjahr in Deutschlands Süden und wohnt zur Untermiete in einem kleinen Zimmer im Haus einer alten Frau.
Vor ein paar Wochen waren wir drei dort und haben Vater besucht. Wohnen durften wir in seiner Unterkunft nicht. Vater hatte uns in einem kleinen Hotel mit Biergarten untergebracht. Abends saßen dort Paare und tranken Bier aus Krügen. Ich fand das schrecklich. Vater dagegen schwärmte von herrlichen Gerichten mit Namen wie "Pressack" und "Leberkäse". Nein, probieren wollte ich diese Dinge nicht und …
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