"Das Kind hat eine langsame Verdauung. Da kann man nicht viel machen, das ist Veranlagung. Geben Sie ihr nicht zu viel zu trinken, das macht erst recht dick."
Beunruhigt schob meine Mutter den Kinderwagen nach Hause. Sie war sich sicher alle modernen Ernährungsratschläge zu beherzigen die ein Kind schlank und attraktiv ins Leben entlassen sollen, trotzdem blieb ich rund. "Rund", so wird mein Zustand genannt. Nein, dick ist was anderes: Ekel erregend, wabbelig, teigig. Das bin ich auf keinen Fall. Überall ist einfach nur ein bisschen zu viel dran, eben rund.
Tief in Mutter drin nagte das Wissen um ein Versäumnis, dessen Fehlerhaftigkeit der Kinderarzt nie ganz ausräumen konnte. In einer klugen Illustrierten, die über Kindererziehung philosophierte, von Mutter kurz nach meiner Geburt gelesen, wurde die Meinung vertreten nur ein Kindermädchen könne bei Erziehungs- und Ernährungsproblemen Abhilfe schaffen. Tatsächlich? Sie war sich sicher: das ist die Lösung. Aber wo sollte sie ein Mädchen hernehmen? Und wo sollte es in der Dachwohnung wohnen? Mein Vater verdiente gut, aber ein Kindermädchen? Das ging nun doch zu weit. Wofür ging er täglich ins Büro und arbeitete mehr als erwartet wurde? Damit sich seine Frau um Haus und Hof und Kinder kümmern konnte, ohne finanziellen Engpässe. So war es Brauch. Ein Kindermädchen überstieg dann doch seine Möglichkeiten.
Diese Problematik beschäftigte meine Mutter sehr und Jahre später wurde meinem Vater dieses Versäumnis noch unter die Nase gerieben wenn es um mein Versagen in der Schule oder meine Figur ging. Er hatte, als ich ein Kleinkind war, nicht die nötigen Mittel für ein Kindermädchen zur Verfügung gestellt und nun brauche er sich nicht beschweren wenn aus mir nichts würde. Sie habe ihr bestes gegeben, aber sie hatte es ja schwarz auf weiß gelesen: nur ein Kindermädchen……
Unsere Wohnung, die wir bis zu meinem dritten Lebensjahr bewohnten lag Stadtmitte, dritter Stock. Aufzug? Gab`s nicht. Frisch verheiratet war mein Vater von seiner ehrenvollen, aber wenig lukrativen Stelle an den Niederrhein in eine große Firma gewechselt. Trotz der großen Wohnungsnot die Mitte der fünfziger …
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