Der Lektor
Ich bin ein gelassener Mensch! Wer mich kennt, wird fraglos zugeben müssen: Das ist ein ruhiger, gelassener Mensch. Und ruhige und gelassene Menschen bringt man so leicht nicht aus der Fassung. Es bedarf schon eines besonderen Anlasses, sollte mir einmal der Kamm schwellen.
Momentan ist er geschwollen! Und zwar so stark, daß ich vorsichtshalber unter dem Türrahmen den Kopf einziehe, als ich das Verlagsgebäude betrete. Wo sitzt dieser Mensch?
Ich husche zum Pförtner hinüber und hole tief Luft. Es braucht ja nicht gleich jeder im Umkreis zu sehen, wie sehr ich in Rage bin. Als ich vor der Pförtnerloge die Notbremse ziehe, ausrutsche und mir den großen Zeh stoße, bin ich fast schon wieder die Ruhe in Person.
„Wo finde ich diesen Unmenschen, diesen Dr. Ungemach?“ herrsche ich den ahnungslosen Mann hinter der blankpolierten Glasscheibe an.
Der zuckt sichtbar zusammen, schaut kurz in mein vor Wut verzerrtes Gesicht, danach etwas länger in sein Telefonverzeichnis, sucht hastig und verrät mir voller Ergebenheit die Zimmernummer. Offenbar sieht er darin die einzige Chance, den bitteren Kelch einer Attacke an sich vorüberziehen zu lassen.
Zimmernummer 33! Das paßt zu diesem Lektor. Hätte die Zahl 32 nicht auch genügt? Oder 31? Aber nein, es muß diese Nummer sein. Warum ich jene Ziffernfolge nicht mag? Weil ich jetzt bereits 33 Mal erfolglos versucht habe, ein Manuskript bei diesem Verlag einzureichen. Und von diesen 33 Versuchen sind 38 fehlgeschlagen.
Wie das rechnerisch zu erklären ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Schließlich bin ich kein Mathematiker, sondern Autor. Und ein ziemlich guter obendrein; auf jeden Fall ein sehr fleißiger. Offenbar sind einige meiner Werke so umwerfend, daß sie aus prophylaktischen Gründen gleich mehrmals abgelehnt werden müssen.
Die Füße zur Faust geballt steige ich mühsam die glänzenden Stiegen bis zum dritten Stock empor, schnaufe wie eine Lokomotive. Das ist gut. Das hebt meine Stimmung, macht mich unbesiegbar.
Als ich keuchend oben angekommen bin, bemerke ich eine Aufzugstür, die sich gerade öffnet. Ah, einen Lift haben sie hier auch. Das muß ich wohl übersehen haben ... Schwamm drüber.
Heute werde ich mir persönlich anhören, was dieser Dr. Ungemach gegen mich einzuwenden hat. Auf seinen Tisch werde ich mein bescheidenes Manuskript schmettern, ihm in …
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